27. Mai 2013

Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten

oder: Be a good little sociopath



Es war morgens um 7 und ich gab der Nacht eine letzte Chance. Sie hieß wie immer 'Absturzclub' und stank nach Bier und kaltem Zigarettenrauch. Es gab keine Schlange. Es gab keine nette Begrüßung. Es gab nicht mal mehr einen Türsteher. Der war neben dem Eingang dabei, sein Glück bei einer kleinen Blonden zu versuchen. Wer hier nach Sonnenaufgang hereinstolpert weiß, dass er damit zu leben hat, was sich einem hier noch bietet. Jeder gute Kiez hat mindestens zwei solcher Clubs. Zombiefallen. Wenn die Vögelein gar lieblich zwitschern, sammelt sich hier der blinzelnde, wankende Rest, den zuvor die anderen Clubs und Bars mit einem sauren Schluck Berliner Pilsener aufgestoßen hatten. Du bist so wunderbar... Berlin.

Neben den physischen Resten von Wing1, die sich an einem halbvollen Glas Whisky festhielten, stieß ich hier auf einen alten und einen neuen Bekannten. Pick-Up-Kater TOM, der seit einiger Zeit ganz ohne JERRY um die Häuser streunte, hatte es sich auf einem Schrank neben der Tanzfläche bequem gemacht und fixierte sprungbereit die kleine Gruppe tanzender Mäuse unter ihm. Deutlich weniger unauffällig versuchte sein neuer Wingman neben dem Schrank in Deckung zu gehen. Dies gestaltete sich schon aus platztechnischen Gründen schwierig, denn statt einer kleinen Maus hatte TOM sich offensichtlich einen wesentlich größeren und kräftigeren Nager zum Freund gemacht. TOM setzte bereits zum Sprung an und sein neuer Wingman drückte den Schrank bedenklich weit zur Seite, als beide auf mich aufmerksam wurden. TOM stürmte sofort auf mich zu und stellte mir die riesige, dunkelbraune Maus mit den kräftigen Tatzen hinter ihm als BALU vor. Ich war zu diesem Zeitpunkt geistig leider nur noch bedingt aufnahmefähig, begrüßte BALU die Riesenmaus aber höflich und machte mich dann frisch, fromm und fröhlich auf den Weg zur Bar um mir endgültig gepflegt die Lampen auszuschießen.

Glücklich und im Besitz eines neuen Bieres testete ich zunächst mal alle überlebenswichtigen Funktionen von Wing1, der mir erklärte, dass er sowieso beabsichtige in nächster Zeit den Schleudersitz zu betätigen und tauschte dann mit TOM einige lustige Geschichten der vergangenen Wochenenden aus. Aus dem Augenwinkel konnte ich beobachten, wie BALU tänzelnd und mit einem Glas Honig in der Hand versuchte ein zierliches, asiatisches Weibchen an die Bar zu locken, was ihm auch bemerkenswert schnell gelang. Leicht zu begeistern, wie ich in solchen Zuständen nunmal bin, beschloss ich bei meiner nächsten Runde durch den Club, kurz mal bei den beiden an der Bar vorbeizusehen, um BALUS kleiner Biene neben seinem Honig noch ein wenig Social Proof aufs Brötchen zu schmieren. Gesagt, getan. Als ich das nächste Mal zum Tresen schlenderte um mir ein neues Bier zu holen, grüßte ich BALU besonders herzlich und flüsterte seiner Maja ins Ohr: „Der Mann ist echt der Hammer, pass bloß auf ihn auf. Er ist wirklich einer der coolsten Typen, die ich kenne“. Dann nahm ich mein Bier und ging Richtung Tanzfläche. Ich war äußerst zufrieden über meine gute Tat. Mein Gehirn beschloss in diesem stolzen Moment, dass das doch ein großartiger Zeitpunkt für einen Filmriss wäre. Und so endet meine Erinnerung an diesen Abend auch genau hier.


Am nächsten Tag wachte ich erst spät Nachmittags auf. Meine magenbedingte Abstinenz hatte mich wohl merklich aus dem Training gebracht. Ich machte mir einen starken Kaffee und klappte meinen Laptop auf. Nach einer Runde Tagesschau, ganz leise und mit einem Auge, meldete sich TOM auf facebook. Erstmal bekam ich einen Anschiss für meinen polnischen Abgang und dann dafür, dass ich ihn mit einer jungen, hübschen Dunkelhaarigen an der Bar zurückgelassen hatte, die gerade dabei war uns lallend zu erklären, dass tägliches Duschen völlig überbewertet sei und sie gerne auch mal drei oder vier Tage ohne Dusche lebt. Offensichtlich schien dieses Gespräch für mein Gehirn das Signal gewesen zu sein, den Autopiloten einzuschalten. Ich erinnerte mich ganz dunkel an das Mädchen und auch an ihre unappetitliche Themenwahl. Anscheinend war ich mir sicher gewesen, dass es hier nichts mehr zu holen gab ausser Filzläuse und so muss ich wohl kommentarlos gegangen sein. So weit so lustig. Danach erwähnte TOM allerdings noch meinen durchaus mutigen und forschen Approach auf der Tanzfläche. „Tanzfläche???“ dachte ich mir „das klingt gar nicht gut. Und auch gar nicht nach mir“. Leider kamen hierzu auch bei genauerem Überlegen absolut keinerlei Erinnerungen. Ich fragte vorsichtig nach, was ich denn da genau getrieben hätte, auf der Tanzfläche und betete innerlich, dass jetzt nichts allzu peinliches kommen möge. TOM schrieb mir, ich sei mitten auf der Tanzfläche ohne große Rücksicht auf Verluste in ein 3er-Set gegangen, bestehend aus zwei Mädels und einem Typen, die aber wohl alle drei damit beschäftigt waren bereits heftig miteinander rumzumachen. Mich habe das aber herzlich wenig davon abgehalten eines der Mädchen trotzdem ordentlich vollzuquatschen. Ich konzentrierte mich nochmals mit aller Kraft auf meine Erinnerung. Es kam nichts. Verdammt. Blackouts waren, und sind für mich immer noch, ziemlich beängstigend. Ein gruseliges Gefühl. Eine Warnung meines Körpers. Dagegen sollte ich dringend etwas tun! Entweder ich würde mir in absehbarer Zeit ein Diktiergerät zulegen müssen, oder ich sollte mal darüber nachdenken, meinen Alkoholkonsum besser zu kontrollieren. Ich traf eine wichtige Entscheidung.

Kurz vor Ladenschluss stand ich, zwei Stunden später, schwankend und mit einem sehr flauen Gefühl im Magen zwischen den endlosen Regalen bei MEDIAMARKT. „Ja also ich brauche irgendwie so etwas wie ein Diktiergerät oder so...“ flüsterte ich dem, schon durch meine Anwesenheit überforderten, Verkäufer entgegen. Der Bursche hatte zumindest einen Hauch mehr Ahnung als ich. Er wusste, wo die betreffenden Geräte standen. Danach hörte seine Fachkenntnis natürlich aber auch schon auf. Und so stand ich mit hämmerndem Schädel vor einem mittelgroßen Regal voller Aufnahmegeräte. Aber wenn es irgendetwas gibt, in dem Männer Frauen wirklich überlegen sind, dann darin sich stundenlang und bei nervigster musikalischer Beschallung in Elektro-Fach- und Bau-Märkten durch endlose Produktbeschreibungen zu ackern, bis sie das wirklich beste Gerät zum optimalsten Preis/Leistungs-Verhältnis gefunden haben. In meinem Fall dauerte es über eine halbe Stunde. Danach trug ich meine erlegte Beute zur Kasse und war im Anschluss 70 Euro ärmer, aber stolzer Besitzer eines OLYMPUS VN-712PC Aufnahmegerätes mit USB-Anschluss, 2GB Speicher und Rauschunterdrückung. Dazu hatte ich mir ein winziges, schwarzes Knopfmikrofon mit Halteklipp zugelegt. Als ich mich zuhause auf mein Bett fallen ließ, und beides vor mich hinlegte, hatte ich wiedermal einen dieser 'Pick Up Momente' in denen ich mich fragte, was für peinliche, soziopathische Blüten es eigentlich treiben kann, wenn Männer längere Zeit keine Freundin haben.



Einige Tage später...

Ich lag vor meinem Laptop und starrte auf diese Datei. 400 MB. 5 Stunden, 7 Minuten und 28 Sekunden. Meine gestrige Nacht. Ich erinnerte mich, dass die erste halbe Stunde schwierig war, weil ich mich fühlte als würde ich vor Publikum sprechen. Danach wurde ich lockerer und nach ungefähr zwei Stunden hatte ich es vergessen. Ich musste lediglich beim Pinkeln einige mal grinsen, als ich das kleine, schwarze Mikrofon an der Innenseite meines linken Jackenärmels sah. Am Abend hatte ich noch überlegt, wo ich das Mikro befestigen sollte. Ich dachte zuerst an den Kragen meines Hemds oder meiner Jacke, aber das war mir zu zentral im Blickfeld meiner zukünftigen Gesprächspartner. Dann kam mir die Idee. Das Aufnahmegerät packte ich in meine linke Innentasche und führte das Mikrofonkabel durch den linken Ärmel. Das Mikrofon befestigte ich dann an der Innenseite meines Ärmels. Das war geradezu perfekt, da das Mirko nun, wenn ich den Arm anwinkelte direkt nach oben zeigte. Für gewöhnlich halte ich mein Bier oder meinen Drink mit der Linken und so würde sowohl ich als auch mein Gegenüber, da man sich im Club beim Unterhalten etwas vorlehnt, direkt in das Mikro sprechen. Auf höchster Qualität hatte ich über 22 Stunden Aufnahmezeit. Das sollte wohl reichen. Als ich mich gegen 1Uhr Nachts der Stammbar näherte, nahm ich meinen neuen Begleiter aus der Jackentasche und drückte auf Record. Ganz kurz verspürte ich den Drang in mein Handgelenk zu sprechen und ein schwarzes Auto mit roten LEDs zur Hilfe zu rufen, aber ich konnte ihn kurz vor dem Eingang doch noch unterdrücken.

Es war keine meiner besten Nächte, aber es waren reichlich Gespräche in unterschiedlich lauten Clubs und Bars zusammen gekommen. Ich war gespannt. Gespannt, ob die Qualität überhaupt ausreichte und gespannt darauf mich zum ersten Mal in meinem Leben selbst zu belauschen. Ich startete die Datei und man hörte Schritte und langsam lauter werdende Musik. Ich skippte 5 Minuten vor. Laute Musik, Gläserklirren und viele Stimmen. Ich skippte nochmal 3 Minuten. BÄM! Bambi! Man konnte sie laut und deutlich verstehen. Wie es mir denn gehe und wo ich so lange war, fragte sich mich gerade. Und dann kam ich. Oder zumindest hätte ich dann kommen müssen. Stattdessen hörte man einen schmierigen Typen mit seltsam tiefgedrückter Stimme einen blöden Witz machen und im Anschluss feist und falsch lachen. Aaaah! Mich überfiel Panik und ich klickte hektisch auf den Pause-Knopf. Oh mein Gott! Wer war der Typ? Oder wer sollte das sein? Das war doch nicht ich! Wen versuchte ich denn da darzustellen? James Bond? Superman auf einer Überdosis Viagra? Sascha Hehn beim Vorsprechen für den ersten Traumschiff-Porno? Ich hatte mich inzwischen aufgesetzt und starrte völlig entgeistert auf meinen Laptop. In einer Mischung aus Neugier und Angst bewegte ich den Mauszeiger langsam wieder über den Play-Button. Click. Da war er wieder. Der Porno-Onkel. Ich hörte genauer hin. Irgendwie war das schon ich, der da sprach, nur hatte ich anscheinend versucht Kreide zu fressen und sie dann mit Gleitcreme runtergespült. Es war schwer zu ertragen. Nach 20 Sekunden musste ich wieder stoppen. Frustriert stand ich auf und machte mir erstmal einen Kaffee. „Wenn ich tatsächlich so mit Frauen rede“ dachte ich mir „bin ich erledigt. Mit dem Typen würde ich auch nicht abhängen wollen“.

Ich brauchte fast eine Stunde, um mich wieder zu trauen, auf Play zu drücken. Ich hörte, wie ich diverse Male den Club wechselte, wie K mir unterbreitete, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hatten (surprise!) und ich darauf eine unfassbar peinliche Rede über Männer und ihre angeborene zwischenmenschliche Behinderung hielt. Ich hörte, wie ich Mädels auf der Straße ansprach (woran ich mich bis heute nicht erinnern kann) und wie mich der Türsteher von Club2 anmaulte. Ich hörte mich pinkeln, trinken und Scheiße labern. Stundenlang! Ich hätte nie geglaubt, wie viel man im Laufe so einer Nacht in Wirklichkeit redet. Eigentlich redete ich ununterbrochen. Mit Frauen, mit Männern, mit Türstehern, mit Fremden und mit Freunden. Irgendwann hörte man, wie die Abstände zwischen meinen Worten verschwammen und ich langsam anfing zu lallen. Ab da wurden meine Opener deutlich kürzer. Gegen Ende der 5 Stunden saß ich mit Wing3, der mir berichtete er habe sich gerade reichlich MDMA eingefahren und wisse jetzt gar nicht so recht, was er mit der Nacht noch anfangen soll, an der Bar. Als er sich kurz gen Toilette verabschiedete wurde ich Zeuge meines letzten und kürzesten Openers der Nacht. Ich erinnerte mich noch an die große Blondine, die neben uns gesessen hatte.

I: „Und? Wieheißtjetztdu?“

MIRA: „Äää... was?“

I: „Wieduheißt! IchheißeELIAhallo.“

MIRA: „Hi. Ich heiße MIRA.“

I: „MIRA! SchönerName. Chabdichhiernochniegesehn. Aberdupassssstjahierganzgutrein.“

MIRA: Ich komme hier schon ewig her.“

I: Ohnajadannmußichdichwohlübersehenhaben. Vielleichtwarichauchschonimmerhier (zeige unter den Tresen) unddukonntestmichnichtsehen..“

In dem Moment kam Wing3 zurück an die Bar und ich unterbrach mein Gespräch mit MIRA abrupt. Das letztes Gespräch auf meiner Aufnahme fand im Taxi statt. Ich erläuterte dem türkischen Taxifahrer die problematische Entwicklung der modernen Kunst im digitalen Zeitalter und er stimmte mir darin voll zu: „Ja. Das'Problem. Das'groß'Problem!“. Wir verstanden uns anscheinend hervorragend. Alkohol verbindet Menschen und Kulturen. Wir sollten viel mehr Schnaps in Krisengebiete liefern. Bier für Palästina wäre sicherlich auch eine tolle Initiative... Ich werde das demnächst mal als Verein eintragen lassen.

Ob sich die 70 Euro gelohnt haben? Das weiß ich noch nicht so genau. Es ist auf jeden Fall eine schmerzhafte Erfahrung, sich bei solchen Gesprächen zu belauschen und mein erster Gedanke war auch „Das kann meinem Selbstbewusstsein gar nicht gut tun“. Trotzdem werde ich meine neue technische Errungenschaft wohl in Zukunft noch einige Male mit aufs Schlachtfeld nehmen. Selbst wenn es keinerlei 'Lehrwert' für mich haben wird, könnte es doch irgendwann eine beeindruckende Sammlung an betrunkenem Bullshit sein, über den sich meine Enkel und Erben sicher freuen werden. Außerdem gibt es mir die Möglichkeit in 10 Jahren ein Best-Of-Album zu veröffentlichen. Mit den beliebtesten und gelalltesten Openern und allen großen Momenten inklusive den geheimen 'unreleased Bambi-Tracks' und Ende des Jahres gibt es dann natürlich das Weihnachts-Album mit einem Glühwein-Kotz-Konzert für die ganze Familie featuring Wing1, 2 und 3! Freut euch schon mal drauf...


Elia

3 Kommentare:

  1. Der Blog findet mein Gefallen.

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  2. Stell mal den Audiotrack des Pornoonkels hier rein, wir wollen lachen!

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  3. Alter...Ich kann nich mehr!!!
    Ganz großes Tennis!

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